Übrigens war die Digitalisierung des chinesischen Alltags eine Entwicklung von unten nach oben. Neu-Digitalminister Karsten Wildberger versucht es umgekehrt.
Am vergangenen Wochenende las ich eine Nachricht, die meine chinesischen Freunde große Augen machen ließen. Verwunderung. Der Meldung zufolge erklärte Bundesdigitalminister Karsten Wildberger, allen Bürgern Deutschlands eine digitale Identität verschaffen zu wollen. Vom Ausweis bis zur Fahrkarte – künftig soll es möglich sein, so der Plan, auf alle persönlichen Dokumente mobil zuzugreifen. In einer sogenannten digitalen Geldbörse werden sie gesammelt und jederzeit griffbereit sein. Vom Ausweis bis zur Fahrkarte. „Na, endlich“, bin ich geneigt zu sagen.
Vielleicht ist dieses Vorhaben ja eine Gelegenheit, sich China wieder anzunähern. Von China lernen – wo gilt das mehr als bei der Gestaltung des digitalen Alltags. „Achtung, Überwachung!“, höre ich da schon aus allen Ecken rufen. Darum geht es jedoch nicht. Es geht um die Frage, wie das alltägliche Leben einfacher gestaltet werden kann. Bequemer. Und dabei ist China – bei aller noch bestehenden Bürokratie – ein Vorreiter. Das Mobiltelefon ist inzwischen zum wichtigsten Begleiter geworden. Klar, zum Chatten und zum informieren. Vor allem aber, um durch den Tag zu kommen. Das bedeutet freilich auch, wer sein Telefon verliert oder unachtsam fallen lässt, dass es in Brüche geht, ist aufgeschmissen. Zumindest bis Ersatz beschaffen wurde.
Wann ich das letzte Mal an einem Geldautomaten Cash geholt, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich meine, hier in China. Digitales Zahlen ist nicht mehr wegzudenken, dank WeChat- und Alipay. Und hat gerade während der Pandemie auch dafür gesorgt, potenzielle Viren-Übertragung über Geldscheine auszuschießen. Inzwischen lassen sich über die Zahlungs-Anwendungen alle Geldgeschäfte erledigen. Überweisungen im Handumdrehen. Und selbst Straßenmusikanten wollen nicht mehr in bar belohnt werden. Kein Hut liegt vor ihnen, sondern ein QR-Code, den jeder einscannen kann, der ein paar Kuai als Belohnung zahlen will.

Auch Ausweis, Führerschein und Fahrzeugdokument sind via Mobiltelefon abrufbar. Ebenso die Krankenversicherungskarte und andere Versicherungsdokumente sowie der Nachweis, dass das Auto den technischen Forderungen entspricht und die Abgasnormen erfüllt. Belege, ob vom Arzt oder für die Übernachtung, werden elektronisch ausgestellt und abgerufen. Mautgebühren? Werden mobil eingezogen, via App auf dem Telefon. Wer in Bus oder U-Bahn steigt, scannt einen QR-Code, mit seinem Telefon selbstverständlich.
Ausgedruckte Fahrkarten für die Bahn – waren einmal. Mit den Personaldaten verknüpft, reicht der Ausweis, um einen Zug zu besteigen. Tickets für Inlandflüge werden ebenso schon lange nur noch elektronisch bereitgestellt. An den neueren Flughäfen, wie hier in Qingdao, sind inzwischen auch die Bordkarten überflüssig geworden. Per Gesichtserkennung geht es durch die Sicherheitskontrolle, per Gesichtserkennung geht es dann auch in den Flieger.
Übrigens war die Digitalisierung des chinesischen Alltags eine Entwicklung von unten nach oben. Gerade bei Innovation zeigt sich, dass auf diese Weise enormes Potenzial freigesetzt wird. Die Menschen werden begeistert. In China ist das einfacher zu bewerkstelligen, denn Chinesen sind wie andere Asiaten für Neues offener als Deutsche. Der Staat beobachtet, und reguliert erst, wenn es für ein optimales Funktionieren der Prozesse notwendig ist. Deutschlands Digitalminister will es jetzt von oben wissen. Möge er viel Erfolg haben. Und sich nicht scheuen, den Kontakt zu seinen chinesischen Kollegen zu suchen – und Chinas Erfahrungen zumindest zu studieren. Es lohnt sich allemal. Wenn dabei auch ein Neustart in den bilateralen Beziehungen herausspringt – umso besser.
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Peter Tichauer
Peter Tichauer ist ein ausgewiesener China-Experte. Nachdem er mehr als 20 Jahre das Wirtschaftsmagazin ChinaContact aufgebaut und als Chefredakteur geleitet hat, lebt und arbeitet er seit 2018 in der ostchinesischen Küstenmetropole Qingdao.