Anja Kohl, die Börsenexpertin der ARD, scheint über eine Glaskugel zu verfügen. Immer wenn sie in jüngster Zeit Prognosen zur künftigen weltwirtschaftlichen Entwicklung verkündet, endet sie, einem Mantra gleich, mit der Feststellung, die große Unbekannte sei derzeit Chinas wirtschaftliche Performance. „Weil sie den falschen Impfstoff haben“, begründet die Expertin, ihre Worte fast schon wie ein Stakkato dahinhämmernd. Wie die absolute Wahrheit soll es klingen.
Klar ist, dass sie dabei Bezug zu den, zugegeben, sehr harschen Maßnahmen genommen hat, die China jüngst angesichts der Omikron-Welle (einem Wellchen sollte man sagen) ergriffen hat, die das wirtschaftliche Leben in Shanghai, Peking und anderen Millionen-Metropolen nicht nur Tage, sondern Wochen nahezu zum Erliegen gebracht haben. Was aber heißt „der falsche Impfstoff“? Der Logik folgend, müssten dann auch ganz Lateinamerika und die Arabische Halbinsel als nicht berechenbare Risiken für die globale Konjunktur betrachtet werden. Die Bevölkerung in diesen Regionen ist fast flächendeckend mit diesem „falschen Impfstoff“ der Marken Sinopharm und Sinovac immunisiert worden. Und: Werden nicht gerade Länder, die auf den „richtigen Impfstoff“ gesetzt haben, immer wieder von Infektionswellen überrollt? Erst gestern hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die deutsche Öffentlichkeit vor einer „Sommerwelle“ gewarnt, weil die Omikron-Inzidenzen mit zunehmender Geschwindigkeit steigen.
Impfquote ist das Problem
Chinas Problem ist nicht, ob der Impfstoff „falsch“ oder „richtig“ ist. Die Impfquote ist es. Besonders unter der älteren Bevölkerung, die allgemein als besonders vulnerabel betrachtet wird. Hinzu kommt, dass China bei den Impfkampagnen einer anderen, nicht von der Hand zu weisenden Logik gefolgt ist und zunächst die Menschen in den Mittelpunkt des Schutzes gerückt hat, die potenziell der Gefahr ausgesetzt waren, sich mit dem Corona-Virus anzustecken: Grenz- und Zollbeamte, medizinisches Personal, in Logistik und Handel beschäftigte. Menschen über 60, Rentner, die nach allgemeinem Verständnis kaum das Haus verlassen, wurden erst einmal hintangestellt, wenn auch nicht ausgeschlossen. In Shanghai hat sich das jetzt beispielsweise gerächt. Hinzu kommt ein Sicherheitsgefühl, denn Dank strikter Maßnahmen hat China insgesamt äußerst geringe Infektionszahlen. Während andere Länder mit zweiten, dritten und vierten Wellen zu kämpfen hatten, genossen die Chinesen schon ab April, spätestens Mai 2020 ein relativ unbelastetes Leben. Das hat die Impfskepsis noch verstärkt, mit zum Teil haarsträubenden Begründungen, warum eine Impfung nicht angesagt sei.
Doktrin der Null-Covid-Politik
Das nächste Problem ist die fast schon zu einer Doktrin erhobene Null-Covid-Politik, die inzwischen „Dynamische Null-Covid-Politik“ genannt wird. Das heißt, auf Ausbrüche wird nicht nach dem „Null-Acht-Fuffzig“-Prinzip reagiert, sondern mit angepassten und zielgerichteten Maßnahmen. Und Infektionsfälle werden unterschiedlich kategorisiert. Am Ende bleibt es dabei: Null ist Null. Hobby-Virologen in Deutschland und anderswo sind seit dem Shanghai-Lockdown schnell dabei, diese Strategie Chinas zu verdammen und als gescheitert zu erklären. Dabei berücksichtigen sie nicht, dass die „Null“ auch etwas mit den Grenzen des Gesundheitssystems zu tun hat. Was dies bedeutet, haben wir in vielen europäischen Ländern zu sehen bekommen. Die Rechnung ist ganz einfach: Erkrankt nur ein Prozent der chinesischen Bevölkerung so schwer, dass eine Krankenhauseinweisung notwendig wird, müssen immerhin 14 Millionen Intensivbetten verfügbar sein. 14 Millionen. Stirbt davon ein Großteil, möchte man sich die Schlagzeigen in den westlichen Blättern nicht vorstellen.
Die Wirtschaft des Landes nicht opfern
So muss China einen Spagat bewältigen. Denn ohne Zweifel bedeutet ein Zusammenbruch des Warenverkehrs, wie wir ihn zuletzt durch den zweimonatigen Lockdown in Shanghai erlebt haben, für ein Land, das in den globalen Lieferketten eine wichtige Rolle einnimmt, einen immensen wirtschaftlichen Schaden. Hinzu kam, dass auch die innerchinesische provinzübergreifende Logistik in weiten Teilen zum Erliegen kam. Unternehmen, mittlere und kleine im Besonderen, müssen ums Überleben kämpfen. Allein Rettungspakete und Stützungsmaßnahmen werden auf lange Sicht nicht ausreichen. Der Ruf des Ministerpräsidenten, die Wirtschaft des Landes nicht zu opfern, wird nicht ungehört bleiben. Das Dogma muss mit Pragmatismus ergänzt werden. Wer kann dies besser als China. Ganz offensichtlich ist: Ein Tor muss gefunden werden, durch das das Land gehen kann, ein Weg, dem die eigene Bevölkerung bereit ist, zu folgen. Denn noch scheint eine Mehrheit die Corona-Maßnahmen mitzutragen, als notwendig zu akzeptieren. In Shanghai möglicherweise weniger als in Shandong.
Die gute Nachricht steckt in den Wirtschaftszahlen, die vor wenigen Tagen veröffentlich wurden. So hat der Außenhandel im Jahresvergleich ein deutlich robustes Wachstum vorzuweisen. Um 9,6 Prozent legte er zu, nachdem im April nur ein marginales 0,1-Prozent-Plus verzeichnet wurde. Für die ersten fünf Monate des Jahres wurde ein Handelsplus von 8,3 Prozent gegenüber 2021 bilanziert. Trotz „falschem Impfstoff“. An der Tatsache, dass eher früher als später eine modifizierte Corona-Politik notwendig ist, ändert dies allerdings nichts.
Peter Tichauer
Peter Tichauer ist ein ausgewiesener China-Experte. Nachdem er mehr als 20 Jahre das Wirtschaftsmagazin ChinaContact aufgebaut und als Chefredakteur geleitet hat, ist er seit 2018 im Deutsch-Chinesischen Ökopark Qingdao (www.sgep-qd.de) für die Kommunikation mit Deutschland verantwortlich.