Mittelstand „Made in China“

Der „klassische Mittelständler“ steht in Deutschland für Familientradition, Innovation und den ehrlichen Kaufmann. Vom kleinen Handwerker bis zum großen Konzernlenker zählt sich jeder gerne dazu. In China ist der Mittelstand dagegen immer noch ein relativ junges Phänomen – ein weiterer Grund, einen genaueren Blick auf diese wachsende Unternehmensklasse zu werfen.

Mittelstand und KMU
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Was haben Bratwurst, Kindergarten und Mittelstand gemeinsam? Alle drei sind sogenannte Lehnwörter: also typisch deutsche Exportschlager, die längst Eingang in andere Sprachen und Kulturen gefunden haben. China macht da keine Ausnahme. Nicht die großen Staatskonzerne sind die Treiber des wirtschaftlichen Aufschwungs der vergangenen Jahrzehnte, sondern die vielen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die sich seit Beginn der Reformpolitik im Jahr 1978 gegründet haben. Heute zählt die Volksrepublik China schätzungsweise 38 Mio. Mittelständler, die für mehr als 60% des BIP, 75% der technologischen Innovation und 80% der Beschäftigten stehen.

Zahlen, die wir so ähnlich auch aus Deutschland kennen – und die dazu führen, dass sich eine zunehmende Menge wissenschaftlicher Arbeiten mit Chinas Unternehmerschar beschäftigt. Wie kurbeln sie Innovation und Wachstum an und wie unterscheiden sie sich dabei von ihren westlichen Pendants? Anders als in der deutschen Praxis, in welcher sich zunehmend ein System der wechselseitigen Kontrolle durch Funktionsteilung und Aufsichtsgremien etabliert hat, wird das typische chinesische Unternehmen durch den „Lǎo Bǎn“ geführt. Übersetzen lässt sich dieser Begriff mit „alter Boss“ und er bezeichnet in aller Regel den Eigentümer und Geschäftsführer eines Unternehmens.

Mehr Gemeinsamkeiten als gedacht

Betonen anekdotische Fallstudien oder Ratgeber gerne kulturelle Besonderheiten, kommt ein kürzlich vom China Center der namhaften spanischen IE-Universität durchgeführter Vergleich zum Ergebnis, dass deutlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede bestehen: So zeigte die umfragebasierte Studie auffallende Ähnlichkeiten in Bezug auf Alter, bisherige Erfahrungen und Führungsstile. Selbst die Burnoutraten waren vergleichbar. Eine mögliche Erklärung dafür liefert der mit Globalisierung und Auslandserfahrungen einhergehende interkulturelle Austausch.

Auffälligster Unterschied war der deutlich höhere Anteil von Unternehmerinnen in China. Das bestätigt andere Untersuchungen und korreliert mit dem im weltweiten Vergleich insgesamt extrem hohen Frauenanteil an der Erwerbsbevölkerung. Auch die bis 2015 gültige Ein-Kind-Politik spielt eine Rolle. Unabhängig davon, ob es sich bei dem Kind um einen Jungen oder ein Mädchen handelt, investieren chinesische Eltern in der Regel ihre gesamten Ressourcen in dessen erfolgreiche Karriere. Mit Erfolg: Von rund 70 Self-Made-Milliardärinnen weltweit stammt fast die Hälfte aus China.

Die Daten der IE-Studie zeigen zudem, dass chinesische Unternehmer im Durchschnitt weniger schlafen als ihre europäischen Kollegen – nicht viel weniger, aber die Differenz ist statistisch signifikant. Und das trotz 4,2 Tassen Kaffee, den deutsche Mittelständler pro Arbeitstag konsumieren. Der konfuzianische Arbeitsethos wirkt anscheinend stärker als die regelmäßige Koffeinzufuhr. In vielen chinesischen Unternehmen ist „996“ gelebte Praxis: So gilt u.a. Alibaba-Gründer Jack Ma als Befürworter dieser Arbeitskultur, in der die Mitarbeiter an sechs Tagen in der Woche von 9:00 bis 21:00 Uhr im Büro sein sollen.

Verhältnis von Unternehmern/unternehmerischer Aktivität zwischen Männern und Frauen in China und DeutschlandUnternehmertum als evolutionärer Prozess

Neben solchen statistisch messbaren Unterschieden existieren aber auch tieferliegende Eigenheiten. Die Ausprägung von Unternehmertum ist ein pfadabhängiger, evolutionärer Prozess, der von historischen Gegebenheiten abhängt. So ist das Bild vom Mittelstand in Deutschland geprägt durch das Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre. Attribute wie Bescheidenheit, Bodenständigkeit, Tatkraft und Erfindergeist waren im damaligen Umfeld unabdingbar für unternehmerischen Erfolg. Hart arbeitende, detailversessene Tüftler, meist regional verwurzelt im ländlichen Raum, schufen die Basis für viele der heutigen Weltmarktführer.

Ganz anders in China: Dort werden nicht so sehr technische Ingenieurskünste als zuallererst praktische Fertigkeiten gefordert. Unternehmer müssen in der Lage sein, flexibel zu reagieren und schnell Entscheidungen zu treffen. Auch hierfür gibt es historische Realitäten: China hat seit dem Zweiten Weltkrieg mehrere große Wellen erdbebenartiger Veränderungen erlebt – die Einführung der Planwirtschaft in den 1950er-Jahren, die Kulturrevolution anno 1966 sowie die anhaltenden Reformen seit 1978. Die Perioden haben die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Bevölkerung gravierend verändert, mit negativen und positiven Folgen. Sie haben allerdings auch die gesamte Gesellschaft dynamisiert.

Die Reformen waren dabei von Anfang an graduell; es gab weder Blaupause noch Zeitplan. Vielfach wurde das experimentelle, innovative Vorgehen verglichen mit der schrittweisen Durchquerung eines breiten Flusses. Es bestand das Ziel, die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, aber kein Gesamtkonzept, innerhalb dessen eine solche zu erreichen gewesen wäre. Vieles davon lässt sich auf das Verhalten chinesischer Unternehmer übertragen. Es geht darum, mehrere Projekte gleichzeitig zu verfolgen und Gelegenheiten schnell zu ergreifen. Oft herrscht dabei eine Ethik des Gewinnens bzw. des Siegers, d.h., der clever agierende Geschäftsmann kann sich zum Erreichen des Erfolgs sehr weitreichender Mittel bedienen. Der Verlierer war eben nicht geschickt oder klug genug, das Risiko zu erkennen.

Dieser Post ist auch verfügbar auf: Vereinfachtes Chinesisch