Frankfurt/London, 20.10.2021 – Der weltweite Finanzschwerpunkt verlegt sich langsam aber sicher in Richtung Osten. Die Liberalisierung der chinesischen Finanzmärkte eröffnet ausländischen Investoren dabei neue Möglichkeiten. Das hat zur Folge: Chinesische Staatsanleihen spielen eine immer größere Rolle in den Portfolios vieler Anleger.
An den Kapitalmärkten spielt sich gerade ein wahrlich epochales Ereignis ab: die Integration des Markts für chinesische Staatsanleihen in den Investment-Mainstream. Obwohl das Land in den vergangenen 20 Jahren einen wirtschaftlichen Aufstieg erlebt
hat, waren ausländische Investitionen an den chinesischen Anleihe- und Aktienmärkten durch Chinas geschlossene Kapitalbilanz und den schwierigen Zugang zu seinen Finanzmärkten eingeschränkt. Die Bemühungen, die China in den letzten zehn Jahren zur
Liberalisierung seiner Finanzmärkte unternommen hat, zahlen sich jetzt aus, denn das Gewicht chinesischer Staatsanleihen in den wichtigsten Vergleichsindizes und die entsprechenden Kapitalzuflüsse steigen rasant.
Im Bloomberg Barclays Global Aggregate Bond Index beispielsweise stellen chinesische Staatsanleihen jetzt 7,6 % und haben damit einen stabilen Stand erreicht, nachdem der Aufnahmeprozess von April 2019 bis November 2020 dauerte. Im Verlauf von 2020 kletterte der Anteil chinesischer Staatsanleihen im JPMorgan GBI-EM Index auf 10 %. Mit der Aufnahme chinesischer Staatsanleihen in den FTSE World Government Bond Index ab Oktober 2021 mit schätzungsweise 5,25 % ergibt sich eine weitere Gelegenheit für Zuflüsse von aktiven und passiven Anlegern. Diese Veränderungen stellen eine ausgesprochen bedeutsame Umschichtung der wichtigsten Rentenindizes der Welt dar.
Chinas gesamter Anleihemarkt ist der zweitgrößte der Welt und der Markt für chinesische Staatsanleihen ist weltweit der drittgrößte; sie belaufen sich auf mehr Kapital als die Märkte von Deutschland, Frankreich und Spanien zusammen. Angesichts der wichtigen
Rolle, die diese Anleiheindizes in den Portfolios der meisten Anleger spielen, bringen passive und aktive Anleger ihre Auffassungen über chinesische Anleihen zum Ausdruck, ob sie es wollen oder nicht.
Chinas strukturelle makroökonomische Rahmenbedingungen
Ein Blick auf das Gewicht der chinesischen Wirtschaft erklärt, warum Index-Ausschüsse und Anleger sich gleichermaßen dafür erwärmen, über die Indexaufnahme ein beachtliches China-Engagement zu halten. Auf der Kaufkraftparität von 2019 basierend trug China 30 % zum globalen BIP-Wachstum bei. Zum Vergleich: Der Beitrag aller Industrieländer zusammen belief sich auf 29 %. Seither hat sich Chinas BIP bemerkenswert schnell auf das Niveau von vor der COVID-Pandemie erholt. Droht eine Abschwächung der chinesischen Wirtschaft? Das chinesische BIP-Wachstum von 6,6 % für 2018 wurde als „Abschwächung“ ausgelegt, doch selbst dieser Zuwachs bedeutet, dass China in einem Jahr eine Wirtschaftsleistung der Größe von Schweden, Dänemark, Norwegen, Finnland, Irland, Estland, Litauen und Lettland zusammen erzielte. Asiens kaufkraftbereinigter Beitrag zum Welt-BIP kletterte 2020 über die 50-%-Marke. Statistische Zahlen wie diese bekräftigen den Eindruck, dass der weltweite Finanzschwerpunkt sich nach Osten verlagert.
Noch eine andere Gruppe ist auf die stärkeren internationalen Zuflüsse und den gestiegenen Einfluss von China aufmerksam geworden: die Reserve-Manager. China hat mit 10,9 % das drittstärkste Gewicht im Währungskorb der Sonderziehungsrechte (SZR)
des Internationalen Währungsfonds (IWF), hinter dem USD mit 41,7 % und dem Euro mit 30,9 %.4 Dieser Korb der wichtigsten Weltwährungen USD, EUR, JPY, GBP und CNY dient der Stabilisierung der Währungsreserven von Ländern und ist eine Recheneinheit des IWF für Transaktionen mit Mitgliedstaaten. Das Missverhältnis zwischen Chinas Quote an den
Sonderziehungsrechten und dem aktuellen Gewicht des CNY in offiziellen Währungsreserven eröffnet die Möglichkeit, dass die Nachfrage in Zukunft enorm wächst.
China in einem Multi-Asset-Portfolio
Seit China in Indizes aufgenommen wird, weisen Portfolios aller Art nun ein beträchtliches Engagement in chinesischen Anleihen und Aktien auf, das deutlich höher ist als vor der Aufnahme 2019. Ein einfaches Mischportfolio aus 50 % globalen aggregierten Anleihen hatte bis Dezember 2020 beispielsweise mehr als 3 % China-Anleihen aus an globale aggregierte Rentenindizes geknüpften Vermögenswerten. Wenn Anleger 9 % in Schwellenländeraktien hielten, hätten sie bereits 3 % in chinesischen Aktien.
Die Renditen fast aller Investment-Grade-Staatsanleihen liegen unter 1 % und in 27 der 36 mit Investment-Grade eingestuften Länder sind die realen Renditen der 10-jährigen Staatsanleihen negativ. Verglichen mit diesen anderen großen Volkswirtschaften sind die realen Renditen in China sehr attraktiv und die drei Länder mit höheren realen Renditen haben deutlich schlechtere Bonitätsratings. Mit A1 liegt China in der Mitte des Investment-Grade-Spektrums.
Zudem wiesen China-Anleihen eine niedrigere realisierte Volatilität auf als globale aggregierte Anleihen. Die Tatsache, dass der ausländische Besitz im Betrachtungszeitraum niedrig war (zwischen 1,8 % und 7,4 % ), könnte diese realisierte Volatilität nach unten verzerren. Darüber hinaus kaufen chinesische Anleger in der Regel Staatsanleihen und halten sie bis zur Fälligkeit, was zu einer niedrigeren Liquidität am Sekundärmarkt und vielleicht zu weniger Kauf-/Verkaufsreaktionen auf Ankündigungen im Rahmen von Handelsstreitigkeiten führt. Anleger sollten diese historische Anlagedynamik berücksichtigen, wenn sie sich historische Daten für die Anlageklasse anschauen.
Diese Allokationen sind strategisch, sprich langfristig. Daher beinhalten sie per Definition kein Kapital, das vielleicht aufgrund kurzfristigerer Einschätzungen von China eingesetzt wird, wie etwa die Auffassung, dass passive Zuflüsse in China-Anleihen sowohl Anleihen als auch die Währung stützen könnten. Wie sich die passiven Zuflüsse in den FTSE World Government Bond Index entwickeln, muss sich erst noch herausstellen. Die Aufnahme von China-Anleihen in die wichtigsten Anleiheindizes unterstreicht Chinas Bedeutung in der Weltwirtschaft.
Julia Rees
Head of Portfolio Strategy, EMEA und AeJ, Strategic Advisory Solutions, bei Goldman Sachs Asset Management
Dieser Post ist auch verfügbar auf: Vereinfachtes Chinesisch